Beim Klicken in ein Bild öffnet sich eine vergrößerte Ansicht

 

 

2015, "o.T.", Acryl auf Leinwand, 80 x 80 cm

Von Maß und Freiheit

 

Jeder Farbauftrag auf einer Leinwand oder einem anderen Bildträger, sei es als Pinselstrich – fein, grob, flächig, linienhaft, sichtbar oder die Spur des Entstehens verschleiernd, sei es, dass er in irgendeiner anderen Weise entsteht: Fließend, geschüttet, tropfend, Farbe an sich oder kombiniert, es ist die Art wie der Maler mit der Farbe umgeht und somit Teil des schöperischen Prozesses. Im einen Extrem kann es bedeuten, jede Spur der Hand oder des Werkzeugs auszulöschen, im anderen, die Geste als sichtbare Spur stehen zu lassen oder der Farbe die freie Entfaltung aus der Bewegung zu gestatten.

Spätestens seit van Gogh, der Vorbereiter des Expressionismus, die sichtbare Handschrift als Selbstmitteilung des Künstlers im Malakt zum Ausdrucksmittel gemacht hat, beginnt eine Entwicklung, die bekanntlich in den späten 40er Jahren zur Befreiung des Malakts und zur Darstellung des Prozesses des Farbauftrags an sich geführt hat.

 

Auch bei Peter Lorenz ist der Vorgang des Malens entscheidend. Seine Bilder sind Flächen auf denen Formen offen, aber auch geometrisch gebunden organisiert sind. Farbe, scheinbar im freien Fluss eingefangen, an harte Grenzen stoßend, ausgesparte Inseln und Ränder bildend, Spuren breiter, flacher Pinsel, Linienschwünge, Flecken, Spritzer, adernartige Bänder, die unter dünner Farbhaut plastisch hervortreten, Schichten malerischer Eingriffe, die sich überlappen und verschränken. Eine Farbigkeit die von eindeutigen Grundfarben ausgeht, strahlendes Gelb, Rot, Blau und bis in die vom Hell/Dunkel dominierten Kontraste der getrübten Farben und des Schwarz und Grau reicht. Gebrochene und reine Farbklänge, räumlich nach vorne drängende warme und zurücktretende kühle Töne sowie komplementäre Wirkungen steigern den Ausdruck.

 

Gemalt sind seine Bilder fast immer mit Acrylfarbe, einer Farbe, die dank ihres Kunstharz-bindemittels verschiedene Grade der Verdünnung zulässt, dabei von pastos über deckend bis zu lasierend eingesetzt werden kann, schnell trocknet und dabei elastische Schichten bildet. Daneben gibt es eine Anzahl von Siebdrucken, vollflächig ohne Rasterung gedruckte Serigraphien nach Acrylmalereien. Es sind Bilder, die keine Namen tragen, keine Titel weisen auf die inhaltlichen Intentionen des Malers hin: Reine Malerei, bis auf ganz wenige zeichenhafte Elemente ungegenständlich, auf sich selbst verweisend. "o.T", ohne Titel also, wir müssen uns dem Thema ohne sprachliche Hilfe nähern. "Malen ist ein Zustand – Malen ist Selbstentdeckung und jeder gute Künstler malt, was er ist." Eine Aussage Jackson Pollocks im Gespräch mit S. Rodman. Nicht zufällig suche ich Zitatunterstützung beim amerikanischen Großmeister des "abstract expressonism", denn im weitesten Sinn arbeitet Peter Lorenz in der Nachfolge dieser Richtung des 20. Jahrhunderts, einer malerischen Ausdrucksweise, die sich ausgehend von scriptural gestischen Improvisationen Kandinskys um 1910, freien kalligraphisch expressiven Bildern im Umkreis des Expressionismus, über Ausdeutungen zufälliger bzw. automatisch entstandener Farbstrukturen im Surrealismus Max Ernsts, um die Jahrhundertmitte zu den verschiedenen Ausprägungen des abstrakten Expressionismus bzw. Tachismus, Informel oder Action Painting entwickelt hat – eine Malerei, die dann im Falle Pollocks zu einer elementaren Rhythmik als gestalterische Struktur findet.

 

"Ein abstraktes Bild sollte man wie Musik genießen", antwortetet Pollock auf eine Frage, wie man solche Bilder betrachten könne. Und tatsächlich kann auch in einer zeitgenössischen Ausprägung des abstrakten Expressionismus wie dem von Peter Lorenz Musikalisches im weitesten Sinn nachvollziehbar werden: Konzentrationen, Auflösungen, Tempoänderungen rhythmische Akzentuierung, Stakkato, Kontrapunkt ...

 

Der Einfluss der Zeit im prozesshaften Entstehen der Bilder wird gestaltungswirksam wie die Zeit in der Musik. Es sind ungemein kraftvolle Akkorde und Rhythmen, die uns Peter Lorenz vorspielt, eine Malerei mit ausdrucksstarken Formen, die die Dynamik der malerischen Aktionsgebärde auf dem Format spannungsvoll bündelt und inszeniert. Und doch ist dies nur die eine Seite dieser Malerei. Die andere Seite ist die Klarheit, die sich aus geometrischen Grundformen und Kompositionsprinzipien ergibt. Diese Formen sind oft nur hart begrenzte, schnittartige, stereometrische Flächen, Rechtecke zum Beispiel, die als Kontrapunkt zu den freien Partien diese steigern oder brechen. Zuweilen treten sie als zeichenhafte Gebilde auf, als Kreuz oder Dreieck oder werden zu Schriftzeichen wie in den Zahlenbildern, wo die Geometrie der Zeichen als scripturale Strukturen einer Bewegung entspringt. Geometrie kann aber auch heißen: Symetrisch in achsialen Entsprechungen, horizontal, vertikal oder diagonal – Formen, die sich paarweise ergänzen oder aufeinander bezogen sind – klare geradezu klassisch anmutende Kompositionen, die im Gegensatz zu den offenen, vom gesteuerten Zufall bestimmten gestischen Formen stehern.

 

Die im Malprozess freiwerdenden Kräfte und die Dynamik können als Äquivalente zu physischen und emotionalen Kräften gesehen werden, die der Maler im Gegenüber mit der Arbeitsfläche geradezu entlädt, aber auch kontrolliert – sie im Format konkretisiert und verdichtet. So wird die Bildfläche in ihrer Begrenztheit und Ausschnitthaftigkeit als Aktions- und Konzentrationsbereich auf die menschlichen Maße bezogen und kann vom Betrachter direkt im Miteinander von Strenge und Gelöstheit, Maß und Freiheit, Ordnung und Chaos erfahren werden. Zusammen mit den expressiven Farbklängen, die eine ganz spezifische Anmutungs-qualität befördern, wird die Malerei von Peter Lorenz zum Sinnbild einer Synthese von Emotionalität und Rationalität.

 

H.P. Schlotter


weiter zu Seite 3